Im letzten Projektjahr von „Weniger Müll für’s Lebensg’fühl“ lud die ÖGUT Schladminger:innen ein, sich in zwei Schreibwerkstätten unter der Leitung von Barbara Ruhsmann kreativ mit dem Wert der Dinge und mit Ressourcenschonung auseinanderzusetzen. Hier erfahren Sie, was in einer Schreibwerkstatt passiert und welche Themen in den beiden Schreibwerkstätten behandelt wurden. Außerdem präsentieren wir den Text „HIAS“ von Wolfgang Brandner.

Geschichten zu erzählen und zu schreiben, zählt zu den wichtigsten Kulturgütern. In Schreibwerkstätten kommen Menschen zusammen, um ihre Geschichten zu finden, sie aufzuschreiben und sie zu erzählen. In stetem Wechsel von Einander-Erzählen, Schreib- und Vorlesesequenzen dringt man immer tiefer in ein Thema ein. Das Schreiben verlangsamt und intensiviert gleichzeitig den eigenen Gedanken- und Erinnerungsstrom, hilft beim Ordnen und Herausarbeiten des Wesentlichen. Beim Einander-Vorlesen erhält man unmittelbar Feedback, lernt einander auf neue, oft überraschende Art kennen. Und das, was in einer Schreibwerkstatt entsteht, die Texte, bleiben nachhaltig da, können nichtmehr so leicht weggewischt und vergessen werden. Schreibwerkstätten führen in die Tiefe und heben dort Schätze an Erinnerungen, Erfahrungen und Phantasie. Gerade für Projekte mit einem starken Nachhaltigkeits-Fokus sind Schreibwerkstätten eine enorme Bereicherung.

Was ist uns wert, geschont zu werden? Was würden wir nie im Leben wegwerfen und warum?

Diese Fragen standen im Mittelpunkt der ersten Schreibwerkstatt, die am 19. November 2022 im Rathaus Schladming stattfand. Die Teilnehmer:innen verfassten dabei Lobreden auf Dinge, die ihnen im Lauf ihres Lebens besonders ans Herz gewachsen sind. Es ist wohl kein Zufall, dass es sich dabei großteils um Dinge gehandelt hat, die innerhalb einer Familie von einer Generation zur nächsten übergegangen sind oder deren Bedeutung mit der Erinnerung an einen geliebten Menschen zu tun hat – das kann ein Herd sein, ein Werkzeug oder eine Brille. Der Wert der Dinge speist sich im Letzten aus Beziehung. Je länger ein Ding „in Gebrauch“ ist, desto mehr Beziehung entwickeln wir zu ihm. Je mehr Beziehung wir dazu entwickeln, desto mehr wird uns ein Ding wert. Je mehr es uns wert wird, desto weniger werfen wir es weg. So einfach ist das grundsätzlich…

Mein liebster Gast

Die zweite Schreibwerkwerkstatt fand am 15. April statt und widmete sich unter dem Motto „Mein liebster Gast“ dem Tourismusgeschehen in Schladming. Was zeichnet die liebsten touristischen Gäste in Schladming aus? Was bringen sie mit, was lassen sie da, was nehmen sie (wieder) mit? Welches Bewusstsein für Ressourcenschonung wünschen sich die Schladminger:innen von sich selbst und von ihren Gästen? Die Teilnehmer:innen verfassten „Gebote“ für touristische Gäste und beschrieben so konkret, kritisch wie lebendig, zu welchen Reibungen es insbesondere in der Hauptsaison zwischen Gästen und Einheimischen kommen kann. Aus den entstandenen Texten sind auch deutliche Warnungen herauslesbar: Es braucht mehr Achtsamkeit nicht nur gegenüber der Umwelt und natürlichen Ressourcen wie dem Boden, den es vor Verbauung zu schützen gilt, sondern insbesondere auch gegenüber den Ressourcen des Gemeinwesens, dessen innerer Zusammenhalt genauso geschützt werden muss.

„HIAS“ von Wolfgang Brandner aus der Schreibwerkstatt zu „Mein liebster Gast“

Stellvertretend für alle in Schladming entstandenen Texte freuen wir uns, hier den eindrucksvollen Text „HIAS“ von Wolfgang Brandner veröffentlichen zu dürfen – einen fiktiven Dialog aus der Zukunft, der uns zu denken geben sollte.

Wolfgang Brandner: HIAS

– Entschuldigung, können Sie mir helfen?

* Meinen Sie mich?

– Ja natürlich. Sie sind doch von hier, oder?

* Wie kommen Sie denn darauf?

– Wir sind hier am Fuß des Berghanges vor der Talstation der Seilbahn. Um uns herum herrscht Trubel, die Leute sind fröhlich und laut. Sie sind der Einzige, der nicht mit Skiern unterwegs ist, der keine Flasche trägt, der nicht singt, keine unpassende Lederhose trägt und der aufrecht steht.

* Gut beobachtet. Ich bin HIAS, wie kann ich Ihnen helfen?

– Hias für Matthias?

* Nein, HIAS für Hotelweites Interface für Auskünfte und Serviceleistungen. Ich bin ein autonomer KI-gesteuerter Avatar.

– Beeindruckend! Sie können mir sicher sagen, wie ich zum Krankenhaus im Ort komme.

* Warum wollen Sie denn das?

– Ich war mit einem Freund unterwegs, und der hatte einen schweren Unfall auf der Piste. Er wurde vom Bergrettungdienst abtransportiert und bestimmt ins Spital gebracht.

* Wie kommen Sie denn auf Bergrettungsdienst?

– Nun, auf dem Transportfahrzeug stand „BRD“.

* BRD bedeutet „Bodengebundene Räumungs-Drohnen“.

– Sie mit Ihren Abkürzungen … Aber wie komme ich denn jetzt zum Krankenhaus?

* Haben Sie keinen Gutschein bekommen?

– Gutschein?

* Bei Unfällen bekommen die Hinterbl…, pardon, die Begleitpersonenen immer einen Après-Ski-Gutschein.

– Hören Sie, ich will mich nicht betrinken.

* Das ist ungewöhnlich. Üblicherweise sind nach der dritten JESSAS-Mischung alle Sorgen verflogen und die Partylaune ist wiederhergestellt.

– Lassen Sie Jesus aus dem Spiel!

* Aber nein, JESSAS steht für Jäger-Energy-Super-Sport-Après-Ski. Alle Gästen wollen doch trinken und feiern, oder?

– Nein verdammt, ich will in das örtliche Krankenhaus, um nach meinem Freund zu sehen!

* Ich könnte einen Transport für Sie zum PK organisieren.

– PK?

* Verzeihen Sie, PK steht für Primärklinikum. Etwa 50 Kilometer talabwärts gibt es das einzige Krankenhaus der Region. Alle zwei Stunden werden verunfallte Gäste mit einem Tansporter dorthin gebracht.

– Warum denn nur alle zwei Stunden, wenn es doch ein Notfall ist?

* Das lässt einfach der Verkehr nicht zu. Seit eine dreispurige Autobahn durch das Tal führt, ist der Verkehr so dicht, dass es sich einfach nicht rentiert, öfter zu fahren.

– Was ist mit Rettungswagen mit Blaulicht, was ist mit Hubschraubern?

* Das gab es früher. Als es im Ort noch ein Krankenhaus gab, war dauernd die Rettung mit Folgetonhorn unterwegs. Das hat unsere Gäste nur beunruhihgt. Zu Spitzenzeiten waren dann fünf Helikopter gleichzeitig in der Luft. Als schließlich zwei davon kollidiert sind, sind wir auf subtilere Transportmittel umgestiegen. Eines sollten Sie aber wissen: Im PK gilt die 40-30-Regel.

– Bitte erhellen Sie mich.

* Wenn es trotz des Verkehrs 40 Prozent der Unfallopfer rechtzeitig ins PK schaffen, ist das ein Erfolg. Und wenn davon noch einmal 30 Prozent überleben … dann feiert die Belegschaft, sodass sich der Erfolg am nächsten Tag garantiert nicht wiederholt. Außerdem werden die Patienten streng nach dem First-Come-First-Serve-Prinzip abgearbeitet. Weil das PK nur geringe Kapazitäten hat, kommt es vor der Einfahrt immer wieder zu Staus der Transportfahrzeuge. Dazu kommt, dass gelegentlich die Stromversorgung ausfällt, weil das PK auf einer Sumpfwiese gebaut ist und Wasser eindringt.

– Das klingt nach einem äußerst schlecht durchdachten Konzept. Wie kommt man auf so etwas?

* Die Entscheidung, die medizinische Versorgung der gesamten Großregion im PK abzuwickeln, wurde von der Politik getroffen. Ich habe keinen Zugriff auf die exakten Parameter dieser Entscheidung. Ich kann Ihnen nur so viel berichten – wenn Sie gestatten …

– Ich muss ja ohnehin warten.

* … dass es früher mehrere Krankenhäuser in der Region gegeben hat, die aber alle aufgelassen wurden. Im früheren Krankenhaus im Ort ist heute die zweitgrößte Après-Ski-Bar untergebracht. Wollen Sie nicht doch dorthin und feiern und trinken?

– Nein, immer noch nicht. Aber sagen Sie mir, warum ist denn die Straße dauernd verstopft?

* Die Autobahn meinen Sie? Das liegt an der Einheitssaison. Früher hatten wir eine Sommer- und eine Wintersaison, aber inwischen ist ganzjährig Skibetrieb möglich. Das bedingt auch, dass dauernd Gäste an- und abreisen.

– Wie funktioniert denn der Skibetrieb im Sommer? Ich dachte, im Sommer werden die Berge von Mountainbikern und Wanderern genutzt?

* Ja natürlich, wir haben bestens ausgebaute Mountainbike-Strecken, und selbst die Wanderwege ins Hochgebirge sind so abgesichert, dass sie bequem mit Badehose und Sandalen begangen werden können, ganz wie die Gäste es wünschen. Aber irgendwann waren dann Spielplätze und Erlebniswelten am Berg zu wenig, ständig mussten mehr Attraktionen her.

– Und?

* Und inzwischen sind wir stolz, auf dem Gipfel die höchstgelegene Achterbahn der Alpen zu betreiben.

– Aber das Skifahren?

* Richtig. Wir haben den Berg innen ausgehöhlt, damit wir im Sommer den Schnee für den nächsten Winter lagern können. Dann kam die Idee auf, das doch gewinnbringend zu nutzen. Und so haben wir im Sommer jetzt Skibetrieb im Inneren des Berges. Grandios, oder?

– Aber was sagen denn die Einheimischen dazu? Was ist mit der unberührten Natur?

* Bitte präzisieren Sie Ihre Frage.

– Hören Sie: Der Ort wirbt mit der Gastfreundschaft der Menschen, mit einem historischen Ortskern, mit Liebe zur Tradition.

* Traditon? Ach, Sie meinen unsere Folklore-Abende. Nun, für jene Gäste, die wirklich kein Après-Ski betreiben wollen, veranstalten wir jeden Tag einen Schuhplattelabend. Heute fällt der allerings aus, weil die bulgarischen Altenpflegerinnen an der ungarischen Grenze im Stau stehen. Sie wissen schon, die heimische Politik blockiert seit Jahren den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Schengen-Raum. Das ist nicht gut für’s Geschäft, sage ich Ihnen, gar nicht gut.

– Was hat das jetzt wieder mit Altenpflegerinnen zu tun?

* Nachdem es keine Alten mehr zu pflegen gab, haben wir sie einfach auf Jodeln und Schuhplatteln umgeschult. Grandiose Idee, oder?

– Warum gibt es keine Alten mehr? Und was sagen jetzt die Einheimischen dazu?

* Das versuche ich Ihnen ja schon die längste Zeit zu sagen: Es gibt keine Einheimischen mehr.

– Ich bin weit über die Fähigkeit rationalen Denkens hinaus entsetzt. Wie kommt denn das?

* Sie wollen es aber ganz genau wissen. Da muss ich etwas ausholen.

– Nur zu, auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.

* Das Ganze nahm seinen Anfang, als der Ort vor etlichen Jahren als Tourismusdestination immer beliebter wurde. Anfangs kam er regelmäßig im Fernsehen vor, dann wurden jedes Jahr mehr Kongresse und Großveranstaltungen abgehalten, und auch die Landesregierung schmückte sich mit ihm. Es war auf einmal modern, hip, angesagt – wie Sie wollen – einen illegalen Zweitwohnsitz im Ort zu besitzen. Das war ursprünglich eine Annehmlichkeit für jene, die über das Wochenende zum Skifahren kamen. Der steigende Bekanntheitsgrad setzte allerdings einen Mechanismus in Gang, der kaum aufzuhalten war. Die Einheimischen – die gab es damals noch – witterten das große Geld. Zuerst vermieteteten sie, dann verkauften sie ihre Wohnungen. Die Immobilienpreise stiegen, es herrschte Goldgräberstimmung. Für Einheimische und Investoren war es eine Win-Win-Situation. Zunächst zierte sich die Ortsverwaltung noch, verwies auf das Ortsbild und die Bebauungsdichte. Was für eine geschäftsfeindliche Kleingeisterei.

– Aber … aber, gibt es denn nicht so etwas wie eine Bauordnung?

* Die gab es natürlich, aber letztendlich hat das Recht der Wirtschaft zu folgen. In einem alten Volkslied heißt es ja “ … suchst du dir einen Anwalt, der was kann halt …“

– Bitte nicht singen.

* Verzeihen Sie, manchmal geht die Begeisterung mit mir durch.

– Ich dachte, Sie wären ein … ein … Computerprogramm …?

* Eine künstliche Intelligenz. Wenn Sie mir so etwas wie eine eigenständige Persönlichkeit zugestehen wollen, dann speist sich diese aus den Wertehaltungen jener, die ich repräsentiere. Aber wo war ich? Ach ja, die Bauordnung. Die Bürgermeister der kleinen Orte hatten natürlich den spezialisierten Wirtschaftsjuristen nichts entgegenzusetzen, und so erblühte der Ort mit den gestaltgewordenen Träumen von Architekten aus der Landeshauptstadt.

– Ich vermute, das war es dann auch mit dem historischen Ortskern.

* Vollkommen richtig! Was sollten wir denn mit alten Gemäuern. Die Gäste wollen skifahren und feiern. Die interessieren sich nicht für Bausubstanz aus dem Mittelalter. Jedenfalls, wie eine nachträgliche Evaluierung ergab, korrellierten die Preise der Liegenschaften mit der Anzahl der Hauptwohnsitze: Je teurer die Wohnungen und Baugründe, desto weniger Menschen bewohnten den Ort dauerhaft. Junge Familien suchten immer länger nach leistbaren Wohngelegenheiten, und nicht wenige von ihnen zogen dann fort. Wer kein Haus geerbt hat, hatte Pech. Und früher oder später sind alle der Verlockung des großen Geschäftes erlegen. Den Handels- und Gewerbebetrieben kamen die Kunden und Mitarbeiter abhanden, Banken sperrten zu, Bäcker, Friseure, Geschäfte, schließlich auch Wirtshäuser, und kleinere Hotels wurden zu Apartmentanlagen umfunktioniert. Was übrig blieb, waren zwei Supermärkte und einige Sportgeschäfte, ganz nach den Anforderungen der Gäste. Es war ein langsamer, leiser Exodus.

– Aber es gibt doch Grundbedürfnisse … ich meine jeder muss doch essen, was war mit der ärzlichen Versorgung?

* Wenn Sie denn darauf nochmals zurückkommen wollen – die örtlichen Krankenhäuser wurden durch EAZ ersetzt, in denen eine Handvoll Ärzte sich um alle Patienten des jeweiligen Ortes kümmerten.

– Bitte keine Abkürzungen mehr!

* Natürlich, ich vergaß. EAZ, das waren die Erstaufnahmezentren.

– Den Begriff kenne ich doch aus einem anderen Kontext, lassen Sie mich überlegen.

* Das kann nicht sein. Also … das System kollabierte rasch und zwar aus zwei Gründen. Einerseits wirkte die lange angekündigte Schließung der Krankenhäuser abschreckend: Ansässige Ärzte zogen fort, weil sie stark gesteigertes Patientenaufkommen vorhersahen, und neue Ärzte wollten sich genau deshalb nicht ansiedeln. So wurden junge Turnusärzte mit Stipendien in die Region gelockt. Die meisten von ihnen fielen aber nach kurzer Zeit wegen Überlastung wieder aus. Ein aus der Pension in den Dienst zurückgeholter Arzt kollabierte schließlich in der Praxis und verstarb noch vor Ort. Andererseits, das ist der zweite Grund, sprechen wir ja von der Zeit des Aufschwungs. In dieser Zeit stieg nicht nur der Anteil der Zweitwohnsitze, sondern auch der Anteil der verunfallten Gäste an den Patienten. Ob schließlich die Ärzte verschwanden, weil keine einheimischen Patienten mehr da waren, oder die Einheimischen wegzogen, weil keine Ärzte mehr da waren, lässt sich im nachhinein nicht mehr eindeutig feststellen. Ein umgekehrtes Henne-Ei-Problem, wenn Sie so wollen.

– Das klingt ja furchtbar!

* Sehen Sie es positiv: Das war ein evolutionärer Prozess, die notwendige Entwicklung zu jener nie endenden Après-Ski-Party, die wir heute erleben. Aber lassen Sie mich weiter berichten: Zu dieser Zeit hatten auch Chaletdörfer Hochkonjunktur, vielleicht erinnern Sie sich noch.

– Das sind diese Ferienhütten, richtig? Die sind doch recht gemütlich, oder?

* Wir sprechen inzwischen in der Vergangenheitsform davon. Es waren weitgehend baugleiche Wohnungen, nach den höchsten Komforstandards ausgestattet, aber nur für die Nutzung als Urlaubsdomizil. In der Regel waren sie mit sehr viel Holz verkleidet, um urig zu wirken. Sie wurden in Gruppen errichtet, standen jeweils unter einheitlicher Verwaltung und beanspruchten recht viel Platz. Man könnte sagen, sie waren so etwas wie regendichte Zeltlager mit Fundament. Die Einheimischen hatten an dieser Bauform natürlich wieder etwas auszusetzen. Sie kritisierten, dass Infrastruktur permanent bereitgestellt werden musste, diese Dörfer aber nur zu den Urlaubszeiten genutzt werden. Spätestens mit der Einheitssaison hat sich diese Kritik erübrigt.

– Und warum gibt es nun keine Chaletdörfer mehr?

* Sehen Sie den Hang auf der anderen Seite des Tals gegenüber dem Skiberg?

– Dort, wo die Hotelanlage steht?

* Alles gehört hier zum Hotel. Aber ja, das meine ich. Können Sie sich vorstellen, dass dieser Hang einmal bewaldet war?

– Tatsächlich? Hmmm, schwer vorzustellen.

* Ein Investor hatte die großartige Idee, dort das erste Chaletdorf zu errichten, das „Alpine Village“. Das bestand aus 15 zweigeschossigen Holzhütten und einem zentralen Rezeptionsgebäude. Die Anlage war direkt in den Hang hineingebaut. Auf alten Ansichtskarten ist das noch abgebildet, es war ein wundervoller Anblick: exponiert, durch die Architektur so etwas wie Überlegenheit vermittelnd. Das „Alpine Village“ war insofern auch ein Wendepunkt in der Entstehung des Ortes, als dass gegen seine Errichtung zum letzten Mal die Einheimischen ihre geliebte Bauordnung vor sich hertrugen. Als Investor konnte man beinahe den Eindruck gewinnen, diese dörfliche Borniertheit sei etwas Identitätsstiftendes. Aber der Aufstand wurde rasch niedergeschlagen, und damit kehrte dann endgültig Resignation ein.

– Das klingt ja wie der Kampf gegen Naturvölker bei der Kolonialisierung!

* Gibt es denn da einen Unterschied? Nun, den Ansprüchen der Gäste konnte das „Alpine Village“ nicht lange genügen, und so entstand etwas oberhalb davon ein zweites Chaletdorf, das „Mountainview Deluxe“. Das waren dann schon doppelt so viele Hütten, allesamt vierstöckig, jeweils mit Penthouse-Apartment und unterirdischer Wellness-Landschaft. Außerdem war jede Wohneinheit mit einer eigenen Après-Ski-Leitung ausgestattet, mit der sich jeder seine eigenen Getränke kreieren konnte. Allerdings konnten diese Getränke nur auf Vodka-Basis gemischt werden, ein Versäumnis bei der Installation der Leitungen. Das wurde dann recht schnell langweilig. Vor allem hatte das „Mountainview Deluxe“ das zentrale Mobilitätsproblem des „Alpine Village“ noch nicht behoben.

– Gab es zu wenige Parkplätze, oder war die Zufahrt zu eng?

* Keineswegs, jedes der Chalets hatte seine eigene Tiefgarage. Auch, wenn für eine zünftige Après-Ski-Party eigentlich kein Skifahren mehr notwendig war, wollten manche Gäste ja doch noch auf die Piste. Das wurde dann mit dem „Sun City“ höchst elegant gelöst. Das „Sun City“ war das dritte Chaletdorf, das oberhalb des „Mountainview Deluxe“ errichtet wurde. Das war noch größer und noch besser ausgestattet. Die einzelnen Gebäude waren zwar nur mehr dreistöckig, dafür war aber nur jeweils das Penthouse zur Nutzung vorgesehen. Alles unterhalb des obersten Stockwerks stand im Ruf, nur zweitklassig zu sein, Sie wissen ja, wie das ist. Mit den Zuleitungen konnte diesmal tatsächlich jedes vorstellbare Getränk gemixt werden, von Kirsch-Bockbier bis zu Rotwein-Ribisel-Rum. Und um die olfaktorischen Nebenwirkungen abzumildern, waren die Schlafzimmer mit neuester Dunstabzugs-Technologie ausgestattet. Dazu war ein automatisierter Lieferservice für Bärenspeck-Pizza, Edelweiß-Burger und Steinbock-Sushi eingerichtet.

– Sie meinen echte Edelweiß … und Fleisch von Steinböcken?

* Richtig geraten!

– Aber stehen die den nicht unter Naturschutz?

* Stimmt, das ursprüngliche Problem, war die Verfügbarkeit. Aber um den Bedarf zu decken, wurde rasch nachgezüchtet. Das „Sun City“ hatte sogar ein eigenes Genetic-Engineering-Labor! Das allerbeste allerdings war die Seilbahn: Jedes der Chalets hatte seine eigene Seilbahnverbindung quer über das Tal zum Skiberg auf der gegenüberliegenden Seite. Damit war der einfachstmögliche Transport zu den Skihütten sichergestellt.

– Ich verrenke mir gerade den Hals, aber ich kann keine Seilbahn über das Tal erkennen. Die müsste doch zu sehen sein.

* Das ist der unschöne Teil der Geschichte: Die große Zeit der Chaletdörfer endete mit dem Großen Regen. Nach einem zu trockenen Sommer kam in zwei Wochen im November sehr viel Regen auf einmal. Bei all dem Enthusiasmus und der Liebe zum Detail hatten die Architekten der drei Chaletdörfer weder auf die Statik, noch auf ordentliche Fundamente geachtet. Als erstes gab der Boden unter dem „Sun City“ nach. Der spontane Gedanke, einige der eingesunkenen Hütten gesondert zu vermarkten, wurde schnell wieder verworfen. Bevor ein neues Logo entworfen war, kam das Erdreich in Bewegung, und alle 31 Gebäude des „Sun City“ rauschten talabwärts. Auf halber Strecke wurden sie durch das „Mountainview Deluxe“ abgebremst, aber nur kurz. Auch hier steckten die Mauern schon im Schlamm, und schon wurden die nächsten Gebäude mitgerissen. Zusammen mit dem „Alpine Village“ ergoss sich schließlich eine Lawine aus drei Chaletdörfern ins Tal.

– Aber das ist ja eine Katastrophe! Warum war das nicht in den Nachrichten, warum habe ich davon nichts erfahren?

* Nun, wir reden nicht so gerne darüber. Den Kamerateams haben wir sofort den Zutritt verwehrt, aber einige hartnäckige Journlisten wollten unbedingt über bauliche Mängel recherchieren.

– Davon habe ich aber nichts erfahren.

* Einer der Journalisten ist inzwischen stiller Teilhaber am Hotel, ein paar andere haben ein Fünf-Sterne-Wohnrecht auf Lebenszeit, und einer hatte bedauerlicherweise einen Unfall. Jedenfalls begrub die Chaletdorf-Lawine das Gebäude der Stadtverwaltung unter sich. Einige hoffnungslose Romantiker wollten die Trümmer bergen und es neu errichten, weil es angeblich von historischem Wert war. Letztendlich aber fehlte das Geld, weil die Stadt überschuldet war.

* Überschuldet? Ich dachte, der Tourismus brachte den großen wirtschaftlichen Aufschwung?

– Davon profitierte nicht die Stadtverwaltung. Für die Rettungskosten der verunfallten Gäste und die Reinigung der öffentlichen Plätze nach den Après-Ski-Parties musste immer mehr Geld aufgebracht werden, sodass kaum noch Mittel für andere Zwecke übrig waren. Die Zerstörung des Verwaltungsegebäudes war nur noch der berühmte letzte Tropfen. Die Einheimischen waren fortgezogen, ebenso die Ärzte, und die Betriebe waren stark ausgedünnt. Das Konsortium hatte schon davor sukzessive einen Großteil der Immobilien aufgekauft. Als endlich auch noch alle Straßen und öffentlichen Anlagen für einen symbolischen Preis erworben wurden, war der Weg frei: Was sie heute sehen, ist der evolutionäre Höhepunkt des Tourismus: Was früher eine unordentliche, uneinheitliche Kleinstadt war, ist heute eine einzige perfekt organisierte Hotelanlage!

—– Eine Woche später:

– Bin ich hier richtig im Primärklinikum?

# Das sind Sie. Wie kann ich Ihnen helfen?

– Endlich. Ich habe es geschafft! Sie ahnen gar nicht, wie lange ich im Stau gestanden bin.

# Eine ungefähre Vorstellung habe ich. Aber was kann ich für Sie tun? Ich muss rasch weiter.

– Vor einer Woche müsste ein Freund von mir eingeliefert worden sein, der einen Skiunfall hatte.

# Wie ist denn sein Name?

– Friedman. Mit einem N, wie der Nationalökonom.

# Lassen Sie mich kurz nachschauen …

# Ah ja, ich habe den Namen gefunden. Aber ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Haben Sie von der 40-30-Regel gehört?

– Ja, habe ich. Bitte spannen Sie mich nicht auf die Folter.

# Also die gute Nachricht: Ihr Freund ist rechtzeitg bei uns eingetroffen.

(Ende).

Textpräsentation in Schladming

Die Texte aus den beiden Schreibwerktstätten wurden am 25.Mai 2023 in Schladming öffentlich präsentiert.

Hier können Sie eine Auswahl der präsentierten Texte nachlesen.

Und jetzt Sie

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