von Martina Handler
Das Vertrauen in die Politik und ihre Lösungskompetenz sinkt seit Jahren. Das erschüttert auch das Vertrauen in die Demokratie in bedenklicher Weise. So gaben 78 % der Befragten bei der jährlich durchgeführten OGM-Umfrage[1] zu Demokratie an, wenig bis gar kein Vertrauen in die Politik zu haben. Im Vorjahr waren es noch 70 %. Auch die österreichische Wertestudie (Friesl et al. 2011) zeigt diesbezüglich alarmierende Zahlen: Nur noch 14 % der Österreicherinnen und Österreicher haben Vertrauen in politische Parteien. Nur jede/r Zweite ist mit der Art, wie die Demokratie in Österreich funktioniert, zufrieden. Ein Fünftel hätte nichts dagegen, sie abzuschaffen (!).
Gleichzeitig ist das Bedürfnis der Menschen, bei Fragen mitzureden, die sie betreffen, stark gestiegen. Insbesondere bei den besser Ausgebildeten und vor allem auf der kommunalen Ebene. Das Budget einer Stadt oder Gemeinde ist das zentrale Steuerungs- und Verteilungsinstrument der lokalen politischen Ebene. Wenn also von ernst gemeinter Mitbestimmung der BürgerInnen bei kommunaler Entscheidungsfindung die Rede ist, dann dürfen die Finanzen davon nicht ausgeklammert bleiben.
Partizipative Budgets zählen zu den erfolgreichsten Beteiligungsformaten weltweit. Interessant an der Entstehung und Verbreitung des Bürgerhaushalts ist, dass die Idee aus dem globalen Süden nach Europa kam: Vor mehr als einem Vierteljahrhundert wurde in einigen brasilianischen Kommunen der Orcamento Participativo (OP), der Bürgerhaushalt, eingeführt. In Porto Alegre, Hauptstadt des Bundesstaates Rio Grande do Sul und bekanntestes Beispiel, wurde 1988 der Bürgerhaushalt eingeführt und eine Grundstruktur für den Prozess entwickelt, die beispielgebend für viele Länder weltweit werden sollte.
Im Kontext der Debatte um Good Governance sprang der Funke auch auf andere Kontinente über. Die Vorreiter in Europa waren Kommunen in Frankreich, Spanien und Italien. In den letzten Jahren verlief die Entwicklung besonders dynamisch in Großbritannien und Polen. In beiden Ländern werden Bürgerhaushalte national gefördert (in Großbritannien allerdings 2012 stark gekürzt). Polen hat inzwischen die höchste Zahl aktiver Bürgerhaushalte in ganz Europa. In Deutschland wurde der Bürgerhaushalt vor allem im Kontext der Verwaltungsmodernisierung umgesetzt. Das Vorbild war dabei nicht das Modell von Porto Alegre, das auf Umverteilung und Empowerment benachteiligter sozialer Gruppen setzt, sondern das der neuseeländischen Stadt Christchurch, bei deren Good Governance-Reformen das partizipativ erstellte Budget eine bedeutende Rolle spielte.
Damit klingt schon an: Bürgerhaushalte können sehr unterschiedliche Ziele verfolgen: Sie reichen von der Demokratisierung des politischen Systems, der Stärkung der Zivilgesellschaft, Umverteilung und Verwaltungsmodernisierung bis hin zur Bekämpfung von Korruption und Klientelismus.
Was genau ist ein Bürgerhaushalt?
In dem Vierteljahrhundert seit der Entstehung des Bürgerhaushalts hat sich eine Vielzahl an Formen herausgebildet und noch viel mehr, von denen behauptet wird, eine zu sein. Ganz grundsätzlich gesagt, ist ein Bürgerhaushalt ein strukturiertes partizipatives Verfahren, das es nicht gewählten BürgerInnen ermöglicht, bei der Planung und/oder Verteilung der öffentlichen Finanzen mitzubestimmen. Es gehören aber einige weitere Ingredienzien dazu, die einen Bürgerhaushalt ausmachen: Das Verfahren findet auf der gesamtstädtischen Ebene oder auf der Ebene des Stadtbezirks statt, also auf der gleichen Ebene wie die gewählten Gremien der repräsentativen Demokratie; ein Quartiers- oder Grätzelfonds ist kein Bürgerhaushalt. Außerdem zentral: Es handelt sich um einen wiederholten und auf Dauer angelegten Prozess und die kommunalen EntscheiderInnen legen in irgendeiner Form Rechenschaft über die Verwendung der Mittel ab.
Bescheidener Status quo und mögliche Weiterentwicklung
Der deutsche Verwaltungswissenschafter Helmut Klages, der sich seit einigen Jahren intensiv mit der Verankerung von Bürgerbeteiligung in Kommunen beschäftigt, betont das große Potenzial des Bürgerhaushalts als potenzieller Schrittmacher einer auf Dauer angelegten Bürgerbeteiligung und damit der Stärkung der Demokratie. Die regelmäßig wiederkehrende Beteiligungsmöglichkeit eröffne die Chance, dass sich im Lauf der Zeit bei mehr und mehr Menschen ein Selbstverständnis von aktiven BürgerInnen einstellt, die sich in Angelegenheiten, die sie betreffen, auch einbringen wollen. Voraussetzung dafür ist allerdings die qualitätsvolle Ausgestaltung des Verfahrens und hier liege noch Vieles im Argen.
Der Bürgerhaushalt, so wie er in Deutschland weit verbreitet ist, sei im Wesentlichen ein kommunales Vorschlagswesen, das mit dem Prozess der Haushaltserstellung terminlich gekoppelt ist, so Klages, aber kein Bürgerhaushalt. Nur in wenigen Städten wie Freiburg, Solingen, Tübingen, Leipzig und Ludwigshafen könnten die BewohnerInnen bei Haushalts- oder auch Einsparprioritäten mitreden. So lange allerdings die Summen, über die BürgerInnen mitbestimmen können, in Größenordnungen liegen wie etwa beim ersten Kölner Haushalt (0,3 Promille), so lange kann dieses Verfahren nur als „Spielwiese“ bezeichnet werden und nicht als ernsthaftes Beteiligungsangebot.
Viele Bürgerhaushalte sehen mittlerweile vorwiegend Online-Beteiligung vor. Das ist einerseits ausgrenzend – vor allem für alte Menschen, MigrantInnen und sozial Benachteiligte. Außerdem wurde festgestellt, dass die Mißbrauchsmöglichkeit durch kleine, gut organisierte Gruppen hoch ist. Es bedürfte strikter Zugangskontrollen, das widerspricht aber wiederum der „freien Zugänglichkeit“. Das meiner Einschätzung nach wichtigste Argument für einen Online-/Offline-Mix ist jedoch, dass durch Online-Haushalte die Lernchancen partizipativer Prozesse nicht genutzt werden: nämlich dass der Blick aufs Ganze, aufs Gemeinwohl sich einstellt durch die Abwägung der vielen Pros und Contras jeder Lösung und so eine kooperative Gestaltung in Gang kommen kann und nicht nur – wie bei Online-Prozessen – um das beste Ranking gekämpft wird.
Das partizipative Budget könnte dann sein Potenzial ausschöpfen, wenn es nicht als Einzelmaßnahme, sondern als Teil eines umfassenden kommunalen Bürgerbeteiligungskonzept verstanden und in der Stadtverfassung verankert wird, so wie es etwa in Bonn der Fall ist. Die Bonner Leitlinien wurden in einem trialogischen Verfahren der Politik, der Verwaltung und der Bürgerschaft erarbeitet und mit förderlichen Rahmenbedingungen und ausreichend Ressourcen ausgestattet.
Mitbestimmung bei den Finanzen könnte als demokratisches Lernfeld an vielen Orten eingerichtet werden: in Schulen, in Stadtvierteln etc. mit tatsächlicher Entscheidungskompetenz und nicht nur als Ideenbörse für die Politik. Es gilt allerdings wie bei Öffentlichkeitsbeteiligung generell: damit die Kooperation mit der Bürgerschaft gut funktioniert und nicht nur als „Beschäftigungstherapie“ gesehen wird, für die sich der Einsatz der Freizeit längerfristig nicht lohnt, müssen die EntscheiderInnen in Politik und Verwaltung diese Verfahren unterstützen und gute Rahmenbedingungen schaffen. Wird Beteiligung nicht ernst genommen und Ergebnisse nicht oder nur mangelhaft berücksichtigt, dann wird die Bereitschaft der Menschen, sich in der Gemeinde zu engagieren, endenwollend sein und das Vertrauen in die Politik noch weiter Schaden erleiden.
Das 30 Jahre ÖGUT-Quiz
Quizfrage Nr. 6 – Themenbereich Partizipation: Wahr oder falsch?
In Österreich wurde erst in einer einzigen Gemeinde ein Bürgerhaushalt realisiert.
Alle Infos zum Quiz und was es zu gewinnen gibt, erfahren Sie im Blogbeitrag Nr. 9.